Fischers "Kalter Schach-Krieg" II
Als Robert James Fischer Ende Oktober 1971 das Herausfordererrecht gegen den zehnten Weltmeister Boris Spasski erkämpft hatte, nahm in seinem Heimatland der Absatz von Schachspielen sprungartig um 20 Prozent zu. Fast jede Tages- und Wochenzeitung brachte einen Artikel über den Aufstieg des Exzentrikers und im Winter 1971/72 erfasste viele Familien in Amerika und anderswo das Schachfieber. Den Superstar selbst focht dies kaum an. Er führte sein Vagabundenleben weiter; die Heimat blieb das Schachbrett. Solange er sich dort ausleben konnte, war alles nebensächlich. Noch zwei Monate weilte er in Argentinien, tourte mit seinem Freund Miguel Quinteros durch das Nachtleben Buenos Aires, schirmte sich gegen Paparazzis ab, wühlte sich durch alle verfügbaren russischen Schachzeitungen und fand nebenbei die Zeit, fast 30 Simultanvorstellungen zu geben. Hier gab es auch eine Begegnung mit einem späteren Großmeister.
| Fischer,R - Garcia Palermo,C [C31] |
Außerdem hatte sich der Rastlose in dieser Zeit bereits der fundamentalistischen Sekte "Church of God" zugewandt und verschwand jeden Freitagmorgen zu einer 24-stündigen Meditation in die Einsamkeit (Darrach 1971). Kurz vor Ende der argentinischen Auszeit gelang es Svetozar Gligoric, für eine Radiosendung eine Telefonkonferenz mit Fischer und Spasski zu arrangieren. Obwohl Veranstalterangebote der FIDE erst bis Jahresende zu offerieren waren, hatten die Spieler konkrete Vorstellungen von dem, was sie wollten. Spasski interessierte sich vor allem für den Austragungsort: Es sollte keinesfalls jenseits des Atlantiks gespielt werden, wo alle drei Kandidatenmatche zugunsten von Fischer liefen. Der Amerikaner beschränkte sich auf eine einfache Formel: "Für mich steht an erster Stelle das Geld. Das Klima ist der zweite Punkt. Aber ich wiederhole, das Geld ist entscheidend." (Brady 1973, S.204). Bedenkt man, dass er für den Sieg in Stockholm 1962 einen Gewinnpreis von 750 Dollar erhielt und selbst der Kandidatenfinalsieg 1971 den Organisatoren nur 7500 Dollar wert war, dann ist verständlich, dass er nun große Kasse machen wollte. Geschickt baute er eine Aura zur historischen Bedeutung des Matches auf: "Möglicherweise wird es das größte sportliche Ereignis der Geschichte. Bedeutender sogar als der Kampf Frazier-Ali." (Gligoric 1972, S.17). Fischer wusste definitiv, warum er diesen Vergleich mit den explodierenden Gewinnbörsen im Boxsport aufmachte. 1971 hatte das erste der drei Schwergewichtsduelle Alis gegen Joe Frazier jedem der Boxer bereits 2,5 Millionen Dollar eingebracht. Diese Summen steigerten sich: 1974 finanzierte der Zaires Diktator Mobuto den "Rumble in the Jungle" mit Ali gegen George Foreman für jeweils 5 Millionen Dollar und 1975 gab es durch Diktator Marcos beim "Thrilla in Manila" erstmals eine ungleiche Teilung mit 6 Millionen Dollar für Ali und die Hälfte für Frazier. 1978 holten sich auch im Schach Karpow und Kortschnoi auf den Philippinen ihre Preisgelder von insgesamt über einer Million Franken beim Marcos-Regime ab. Vor Fischer wurden die Geisteskämpfer noch aus der Portokasse entlohnt - 1969 zählte nur der Ruhm, als der Rubelwert ca. 1400 Dollar entsprach. Mit Hilfe seines langjährigen Vertrauten Edmund B. Edmondson, einem ehemaligen Leutnant bei der US-Luftwaffe und geschäftsführenden Direktor bei der US-Schachföderation, hatte sich die Nummer eins der Weltrangliste auf die Strategie verständigt, dass das Mindestangebot 100.000 Dollar sein muss. Das Weltschach stieg erstmals ein ins Sport-Showbusiness.
Das Vorgeplänkel - Nervenkrieg als Spannungssteigerung
Von den bei der FIDE eingegangenen 15 Offerten erfüllten nur sechs Fischers Minimalanspruch: Belgrad 152.000 Dollar, Reykjavik 125.000 Dollar, Sarajevo 120.000 Dollar, Buenos Aires und Bled jeweils 100.000 Dollar. Aus der Bundesrepublik lag das Angebot von Dortmund bei 83.000 Dollar, aus den Niederlanden mit Amsterdam ebenso wie Rio de Janeiro bei 80.000 Dollar, aus Kanada mit Montreal 75.000 Dollar, Zagreb bei 70.000 Dollar, Zürich und Athen jeweils bei 60.000 Dollar, Paris am unteren Ende mit 50.000 Dollar vor Bogota mit 40.000 Dollar (alle Angaben nach den Ausführungen des ehemaligen FIDE-Präsidenten Max Euwe in Euwe/Timman 2002, S.15/16; diese Angaben unterscheiden sich teilweise gravierend von der Liste bei Brady 1973, S.206). Chicagos Angebot von 100.000 Dollar wurde aus formalen Gründen nicht akzeptiert. Reykjaviks Summe sollte für die Spieler noch um 30 Prozent der erzielten Einnahmen aus Fernsehrechten aufgestockt werden. Ein Indiz, dass die Ausschreibung nicht ganz eindeutig war - auch die FIDE war nach Jahrzehnten innersowjetischer Duelle eben auf Neuland angelang. Befragt nach ihren Präferenzen votierte Spasski in der Reihenfolge für Reykjavik, Amsterdam, Dortmund und Paris. Fischer nannte Belgrad, Sarajevo, Buenos Aires und Montreal. Kein gemeinsamer Nenner bedeutete erstmals eine Sackgasse. Spasski wollte partout nicht in den Sommertemperaturen Belgrads spielen. Fischers Vertreter Edmondson zeigte guten Willen und akzeptierte Reykjavik wegen des finanzstarken Angebots und die FIDE wollte beiden Höchstgeboten genüge tun und schlug eine Teilung zwischen Belgrad und Reykjavik vor. Dies fand die Zustimmung beider Städte und auch Spasski wurde von seiner Föderation zum Einlenken "bewegt". Am 20. März unterzeichnete man am Sitz der FIDE in Amsterdam die Teilung des Matches.
Doch nur zwei Tage später zog Fischer seine Einwilligung zurück - er will nicht nur eine Garantiesumme, sondern auch eine Beteiligung an eventuellen Überschüssen. Edmondson entband er von seinem Mandat; er verhandele nun selbst. Belgrad fühlte sich düpiert und zog sein Angebot am 4. April zurück, nachdem die Forderung der Hinterlegung einer Bürgschaft von jeweils 30.000 Dollar durch die amerikanische und sowjetische Föderation nur aus dem Osten positiv beschieden wurde. Der US-Verband sah sich außer Stande, sein "Risiko Fischer" zu tragen. Reykjavik hielt seine Bewerbung aufrecht. Unter weiteren engen Ausrichterkandidaten herrschte Anfang Mai 1972 ein anderes Bild hinsichtlich der Übernahme einer Matchhälfte: Amsterdam und Dortmund schieden aus, Paris und Sarajevo waren gewillt. In einer Alleinentscheidung lotete Euwe aber auch die Möglichkeit von Reykjavik als einzigem Spielort aus und gab diesem dann den Zuschlag. Moskau stimmte zu, Fischer ebenfalls, wenngleich "unter Protest" - nach Rücksprache mit Edmondson und seinem Star-Anwalt Paul Marschall, der bereits früher für ihn Buch- und Filmrechte gemanagt hat, aber bereits zweimal in Ungnade gefallen war. Das Match schien gerettet, der Gewinner erhält 78.125 Dollar, der Verlierer 46.875 Dollar und bei einem 12-12 jeder 62.500 Dollar. Außerdem standen den Spielern 30 Prozent der Einnahmen aus Film- und Fernsehrechten zu. Der Herausforderer hatte seinen finanziellen Extrabonus bekommen.
Aber Fischer wollte einen weiteren Test, ob er alle im organisatorischen Umfeld wie Bauern auf einem Schachbrett behandeln kann. Zum Zeitpunkt der Eröffnungsfeier weilt er noch in der Heimat und schirmte sich im Haus von IM Anthony Saidy vor Journalisten ab. Der Weltmeister, die FIDE und die Organisatoren wurden unruhig. Fischer spielte derweil in New York gegen seinen späteren Sekundanten William Lombardy freie Partien mit Turmvorgabe. Der Herausforderer gab dem Großmeisterkollegen, der 1957 Jugendweltmeister war, diese völlig unübliche Kondition und verlor selbstverständlich. Aber der lange Widerstand regte seinen Schachappetit an (Lombardy 1974). Doch sein Geldhunger war noch nicht gestillt: 30 Prozent der Einnahmen aus Eintrittsgeldern sollten an ihn gehen. In Island verstrich der erste Spieltermin, als eine unerwartete Wende eintrat.
James Derrik Slater, ein britischer Investmentbankier, bot 50.000 britische Pfund (ca. 125.000 Dollar) mit einer einfachen Begründung: "Ich liebe Schach und habe selbst viele Jahre gespielt. Viele wollen dieses Match sehen und alles ist vorbereitet. Wenn Fischer nicht nach Island kommt, werden viele enttäuscht sein. Ich will das Geldproblem von Fischer nehmen und sehen, ob er keine anderen Probleme hat." (Brady 1973, S.232) Auch Henry Kissinger, der Berater des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon, trat auf den Plan und appellierte am Telefon an seine Ehre. Es wirkte und am 4. Juli um 7 Uhr morgens traf Fischer am Spielort ein. Da um 17 Uhr die erste Partie angesetzt war, legte er sich sofort schlafen. Doch nun wollten die Sowjets ein Gleichgewicht an Forderungen herstellen - sie verlangten eine "gerechte Strafe" für den Herausforderer. Sogar die kampfloser Punkt zugunsten von Spasski wurde erwogen. Auch die FIDE in Person von Euwe sollte Abbitte leisten, und so rang sich Euwe zu einem Schreiben durch, dass der Weltschachverband zu Unrecht einen verspäteten Beginn geduldet habe und dass man künftig solche Praktik strikt ablehnen werde. Allerdings musste noch Fischer seine Reue zeigen. Und wie immer bei ihm, geschah dies mit einer ungewöhnlichen Geste. In lichten Momenten, wenn die Argumente für ihn überschaubar lagen, neigte er dazu, einen emotional-motivierten Schritt zu tun. Diesmal war es eine wohlformulierte Entschuldigung, die ehrliches Bedauern und eine stringente Argumentation umfasste, warum kein Punktabzug erfolgen solle. Gleiche Ausgangssituation wurde diesmal eine Frage der Ehre für den Repräsentanten der Schach-Supermacht. Am 6. Juli zu nachtschlafender Zeit fuhren Fischer und sein Anwalt Marschall zu Spasskis Hotel, Fischer stand "Schmiere", als der Rechtsbeistand das Papier beim schlaftrunkenen Spasski im 27. Stock abgab. Die Situation war geklärt.
Rückblickend muss festgehalten werden, dass Fischer zur rechten Zeit einige rational denkende Personen zur Seite standen, die ihm als Stichwortgeber dienten, denn es ist höchst fragwürdig, ob der störrische, abgedrehte Fischer seine oft gezeigte selbst-zerstörerische Tendenz zur kompromisslosen Verhandlungsführung hätte allein überwinden können. Außerdem musste die FIDE erstmals seit der Übernahme der Weltmeisterschaft nach dem zweiten Weltkrieg als Schiedsstelle auftreten. Der Dornröschenschlaf der Weltmeisterschaften in Moskau war entgültig vorüber - Schach musste nun global denken. Entsprechend ungeübt verwaltete man noch bei der FIDE das unbekannte Terrain der Suche nach Austragungsorten und WM-Börsen in neuen Finanzdimensionen. Obwohl die erste Abwicklung kein rühmliches Kapitel darstellt, verdient Max Euwes unprätentiöse Haltung Würdigung. Seine kompromissorientierte Amtsausübung überschritt die Buchstaben der FIDE-Statuten, rettete aber das Match, weil jeder Seite Handlungsspielräume eröffnet wurden. Nun nahm alles seinen organisatorischen Gang: Spasski gewann die Farbwahl und führte die weißen Steine im bereits im Vorfeld als "Jahrhundertkampf" titulierten Aufeinandertreffen.
Endlich am Brett - Sternstunde der Schachgeschichte
Das Schachmatch in Reykjavik war dem Spiegel eine Titelstory wert
Am 11. Juli harrten 2.300 Zuschauern der ersten Begegnung. Neun Tage später als geplant zog Spasski unter den Augen seines Botschafters 1.d4 und neun lange Minuten vergingen, bevor der Amerikaner langen Schrittes auf die Bühne zustrebte und seinen Springer auf das Feld f6 setzte. Eine nimzowitsch-indische Verteidigung hing 29 Züge in völliger Balance, bevor der Herausforderer überraschend und spontan-entschlossen mit dem Läufer auf h2 einen Bauern entfernte. Eines der ungelösten Rätsel der Schachgeschichte war passiert. Eine unspektakuläre Remisposition elektrisierte weltweit. Schach erhielt den Status eines Ersatzschlachtfeld erstarrter Supermachtpolitik. Jeder wusste plötzlich, was ein "vergifteter Bauer" ist.
| Spassky,B - Fischer,R [E56] |
Fischers Laune sank gleich auf den Tiefpunkt; die Kameras der amerikanischen Firma von Chester Fox, der für ABC die gesamten Filmrechte erworben hatte, wurden Ziel seines Zorn. "Zu laut!" - jedenfalls für sein Empfinden. Alle Experten schüttelten den Kopf. Schachveteran Miguel Najdorf brachte die Logik Fischers auf den Punkt: "Bobby will 30 Prozent der Eintrittsgelder und 30 Prozent der Fernseheinnahmen, aber er will kein Publikum und kein Fernsehen." (Lombardy 1974) Der Herausforderer beharrte auf seiner Position. Spasski erhielt kampflos den zweiten Punkt.
Lombardy redete drei Tage auf Fischer ein, dass Paul Morphy bei seinem ersten Matchauftritt 1858 im Pariser Café de la Régence gegen Daniel Harrwitz auch 0-2 zurücklag, um dann 5,5 Punkte aus sechs Partien zu holen. Obwohl Fischer schon Reservierungen für drei Rückflüge nach New York vorgenommen hatte, ließ er zwei Stunden vor der Spielansetzung einen Kompromissvorschlag an Oberschiedsrichter Lothar Schmid ausrichten. Man solle in einem separaten Zimmer spielen. Spasski akzeptierte großmütig, bereut dieses Entgegenkommen nach mehr als 20 Jahren. In einem TV-Interview legte er dar, wie es aus seiner Sicht besser gewesen wäre: "Ich hätte sagen sollen. Lieber Bobby ist habe versprochen, die Partie unter diesen Umständen zu spielen. Aber die Bedingungen unter denen sie anfängt, gefallen mir nicht. Ich verzichte darauf. So hätte ich mir die psychologische Initiative und meinen Kampfgeist bewahrt. Aber ich habe völlig anders reagiert. Ich dachte eben, ich müsste auch unter für mich nachteiligen Bedingungen spielen, weil ich es versprochen hatte. Ich habe diese Partie sehr schlecht gespielt. Danach habe ich gemerkt, wie Bobby anfing, mich nervös zu machen. Psychologisch gesehen hatte ich schon verloren. Nach dieser dritten Partie war ich wie vor den Kopf geschlagen." (Vernier/Nolot, 1996). In einem Raum, der sonst für Tischtennis genutzt wird, vollzog sich der entscheidende Stimmungsumschwung. Fischer besiegte erstmals seit ihrem ersten Treffen 1960 den gebürtigen Leningrader.
| Spassky,B - Fischer,R [A77] |