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Capablancas mysteriöses Meisterwerk
Eine Lebendschach-Partie in Marostica, Italien

Capablancas mysteriöses Meisterwerk

Gserper
| 92 | Taktiken

Das erste Buch von Capablanca, das ich gelesen habe, war My Chess Career (auf Deutsch: Meine Schachkarriere). Bereits auf den ersten Seiten habe ich gemerkt, dass es völlig anders war als jedes Schachbuch, das ich zuvor gelesen hatte. Es war fast wie eine Werbung, in der jeder einzelne Satz schrie: "Schau her! Ich bin ein Genie!" Es fängt bereits mit dem Vorwort des Autors an:

In diesem Buch will ich die Ereignisse und Umstände erzählen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute in der Schachwelt bin.
—Jose Capablanca

Dieser Satz kam mir sehr arrogant vor. Zu dieser Zeit hatte ich das Buch des amtierenden Weltmeisters Anatoly Karpov bereits ausgelesen und Karpov war in seinen Kommentaren immer sehr Bescheiden. Jose Capablanca hingegen war noch nicht einmal Weltmeister als er das Buch My Chess Career geschrieben hatte. Da waren aber noch mehr merkwürdige Kommentare in diesem Buch. So schrieb er zum Beispiel über seine Partie gegen Janowski nach 13 Zügen:

In dieser Partie hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, völlig überspielt worden zu sein.
—Jose Capablanca

Wirklich? Diese Partie wurde bei dem berühmten Turnier von San Sebastian im Jahr 1911 gespielt. Durch seinen sensationellen Sieg bei diesem Turnier spielte sich Capablanca in die Weltelite und forderte prompt Lasker um die Weltmeisterschaft heraus. Und da behauptet er, dass er vorher noch nie überspielt wurde? Nicht einmal, als er ein Anfänger war und ein Rating von 1200, 1400 oder 1600 hatte?

Jose Capablanca Chess Prodigy
Sogar als kleines Kind war Capablanca schon extrem talentiert. Foto: Wikimedia.

Abgesehen von diesem Ton machte das Buch einen sehr starken Eindruck auf mich und Capablanca wurde sofort zu einem meiner Lieblingsspieler. Seine Partien waren einfach wunderbar! Am meisten hat mich beeindruckt, dass ich das Gefühl hatte, genau wie er spielen zu können: Einfache Pläne wurden durch einfache Züge umgesetzt. Natürlich wurde mir schnell klar, dass dies ein sehr trügerisches Gefühl war, aber das machte seine Partien nur noch attraktiver!

Später las ich weitere Bücher von Capablanca und hatte im Allgemeinen den gleichen Eindruck: Während der Ton etwas übermütig war, war der Inhalt der Bücher wirklich fantastisch. Nur eine Tatsache blieb mir ein Rätsel.

Als kleines Kind habe ich das Buch Chess Miniatures (Deutsch: Schach Miniaturen) von Abram Roizman geliebt. Das war eine Sammlung von 400 Partien, die nach 25 Zügen oder weniger entschieden waren. Ich benutzte das Buch als mein eigenes Eröffnungsrepertoire und hoffte, meine Gegner mit einer der hunderten von Fallen in diesem Buch überlisten zu können. Wie die meisten Kinder spielte ich damals die Vier-Springer-Eröffnung und da fiel mir natürlich auch Capablancas brillante Partie mit dieser Eröffnung auf. Findet Ihr die Kombination mit der Capablanca diese Partie gewonnen hat?

Trotz der offensichtlichen Schönheit der Partie gab es aber viele offene Fragen. Wie könnte ein Meister, insbesondere einer mit einer Stärke wie Herman Steiner, einen so schrecklichen Zug wie 10...Le6 spielen? Und das in einer theoretischen Stellung? Es ist doch offensichtlich, dass das ein schlechter Zug ist! 

Die zweite Frage ist noch offensichtlicher: Warum hat Capablanca, der ja so gerne mit seinem Talent prahlt, diese Partie nie in einem seiner Bücher veröffentlicht? Ja, My Chess Career wurde veröffentlicht, bevor er die Partie gegen Steiner gespielt hatte, aber was ist mit anderen Büchern? In seinen Lehrbüchern und Vorträgen sprach Capablanca oft und gerne über Kombinationen im Mittelspiel, aber als Beispiele verwendete er immer andere, weniger schöne Partien.

Apropos schöne Partien: Savielly Tartakowers hatte einmal eine fast identische Kombination gespielt:

Es ist also wirklich seltsam, dass die Partie Capablanca gegen Steiner in vielen Büchern über Capablanca, aber nie von Capablanca selbst veröffentlicht wurde!

Vassily Panov nennt den Zug 10...Bd6 in seinem Buch über Capablanca eine "schlechte Neuerung" und gibt ihm ein Fragezeichen. Harry Golombek erwähnt den Zug in seinem deutschen Buch "Capablancas 75 schönste Partien" hingegen überhaupt nicht und auch Euwe und Prins schenken dem Zug in ihrem Buch über Capablanca keine besondere Aufmerksamkeit. Was ist da los?

Ich konnte das Rätsel erst lösen, nachdem ich in dem Buch von Panov entdeckt hatte, dass es sich bei der Partie um ein "Lebendschach" gehandelt hatte. Es ist ja kein Geheimnis, dass solche Partien vorab arrangiert werden, denn die Zuschauer wollten natürlich eine Show mit einem spektakulären Matt sehen. Würden die Spieler fünf Stunden lang versuchen, in einem Endspiel im Lager des Gegners eine zweite Schwäche zu provozieren, würden die meisten Zuschauer wohl gelangweilt die Veranstaltung verlassen.

Die wohl beliebteste Wahl bei solchen Veranstaltungen ist die "Partie zwischen Paul Morphy und Karl von Braunschweig und Graf Isoard."  Aber wenn man, wie in der italienischen Stadt Marostica regelmäßig Lebendschach aufführt, braucht man natürlich etwas Abwechslung. Glücklicherweise hat es in der Schachgeschichte schon viele solcher tollen Partien gegeben. Diese wurde 1972 in Marostica aufgeführt. Könnt Ihr die Gewinnkombination finden?

Aufmerksame Leser meiner Kolumne werden die Kombination sicher schnell gefunden haben, denn sie stammt aus einem Lebendschach, das Schiffers und Chigorin 1897 in Sankt Petersburg aufgeführt hatten.

Dabei haben die beiden aber lediglich eine Partie wiederholt, die sie einige Tage zuvor am Brett gespielt hatten. Mit dem kleinen Unterschied, dass Chigorin die Kombination am Brett nicht gefunden hatte. Über diese Partie haben wir aber schon in diesem Artikel gesprochen.

Jetzt wissen wir, warum Capablanca seine Partie gegen Steiner in keinem seiner Bücher erwähnt hat und warum ein starker Meister in einer theoretischen Stellung einen so schrecklichen Zug gespielt hat. Die Partie war vorab arrangiert und daher nicht wirklich gespielt.

Wenn Ihr also eine Partie wie diese seht:

Dann solltet Ihr Euch diese Fragen stellen:

  1. Warum hat Euwe, der doch fast sein ganzes Leben lang jede Partie mit 1.d4 begonnen hat, plötzlich mit 1.e4 begonnen und sich gegen Mikhail Tal auf ein Najdorf eingelassen?
  2. Warum hat keiner der beiden diese Partie in irgendeinem Buch erwähnt?

Jetzt wisst Ihr die Antwort!

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