Schach-WM, Runde 8: Carlsen entkommt Caruana erneut
"Ich fühle mich, als wäre ich mit einem Mord davongekommen," sagte Magnus Carlsen über die sechste Partie. In der achten Partie wich er zumindest einer Pistolenkugel aus. Nach dem 8. Remis in Folge, dieses Mal in einer Sweschnikov Variante der Sizilianischen Verteidigung, bei der Fabiano Caruana gute Gewinnchancen hatte, steht es bei der Weltmeisterschaft nur 4:4.
"Wenn er heute nicht gewinnt, wird er auch die Weltmeisterschaft nicht gewinnen!" Hikaru Nakamura nahm bei der Chess.com Liveübertragung, bei der ihr jeden Tag alle Partien live verfolgen könnt, kein Blatt vor den Mund.
"Wenn Hikaru zu schnell analysiert," ein Meme Video der Chess.com Liveübertragung des YouTube Mitglieds "vjrus."
Es stimmt aber auch. Falls Caruana nicht Weltmeister wird, wird er den Chancen aus dieser Partie wohl am meisten nachtrauern. Der Herausforderer dachte aber während der Partie nicht, dass er bereits kurz vor dem Sieg stand (es war aber auch nicht wie ein verschossener Elfmeter, wie es ein norwegischer Journalist nannte), aber der Supercomputer Sesse gab Weiß zu diesem Zeitpunkt einen Vorteil von zweieinhalb Bauern.
"Es war eine kleine Enttäuschung, weil ich dachte, ich hätte irgendwann eine sehr vielversprechende Stellung gehabt. Aber ich habe nicht genau gesehen, in welchem Moment", sagte Caruana nach der Partie. Sein Team sollte ihm die heutigen Bewertungen durch die Computer wohl besser nicht zeigen.
Carlsen war erleichtert: "Es war ein hartes Spiel und er war derjenige, der die Chancen hatte."
Carlsen war nach der Partie erleichtert. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Der Weltmeister ging im Mittelspiel ein gewisses Risiko ein, als er mit seinem g-Bauern vorzog und damit seinen König entblößte. Ein Schlüsselmoment war dann der 21. Zug, als das Computermonster namens Sesse nach dem Zug c4-c5, einem Zug, den man in jeder Blitzpartie ohne nachzudenken spielt, eine fast schon gewonnene Stellung für Weiß erkannte.
Sesses Stellungsbewertung zeigte +2.45 an. | Bild: http://analysis.sesse.net
Caruana spielte den Zug, aber die Hoffnung im Lager des Amerikaners zerbröckelte, als sie merkten, dass der Junge aus Brooklyn zwar den besten Zug, aber nicht die Idee dahinter gefunden hatte. Der Zug 24.h3 war viel zu langsam und ab da war Carlsen wieder in der Partie. Bald darauf wurden die Damen getauscht und die Partie flachte in ein Remis ab.
So sahen die Zuschauer die 8. Partie. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Anders als an den vorherigen Tagen war heute Caruana als erster am Brett und machte einen sehr relaxten Eindruck als er vor der Partie, mit der einen Hand eine Flasche haltend, die andere Hand in seiner Hose vergraben, durch den Saal schlenderte.
Carlsen kam nur etwa eine halbe Minute nach ihm an und die Fotografen, die sich auf den Boden gesetzt hatten um bessere Nahaufnahmen des Weltmeisters machen zu können entdeckten, dass er rote NBA Socken trug.
The best socks for chess? @NBA pic.twitter.com/tWVykY3yyI
(@USChess) November 19, 2018
Die besten Schachsocken?
DeepMind Gründer und CEO Demis Hassabis machte heute den ersten Zug. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Nachdem er dreimal sein Glück mit der Rossolimo-Variante versucht hatte (die heute von Margeir Petursson im Pressezentrum den Spitznamen "Sizilianisches Berlin" bekam!), entschied sich Caruana heute, einen Tag nachdem ihm Maxime Vachier-Lagrave empfohlen hatte, Carlsen in der Sweschnikov Variante zu testen, endlich für eine offene Sizilianische Partie und Carlsen hatte wirklich die Sweschnikov Variante vorbereitet (und nicht die beschleunigte Drachenvariante, die Jon Speelman im Pressezentrum vorausgesagt hatte).
Nach Caruanas Zug 3.d4 verzog Carlsen keine Miene zu spielte sofort d4. Nach 4.Sxd4 nahm er allerdings erstmal einen großen Schluck aus einer der 4 Isklar Wasserflaschen, die jedem der beiden Spieler von dem Sponsor für jede Partie bereitgestellt werden.
Dann sah der Weltmeister einige Sekunden in Richtung der Fotografen - als wollte er die Spannung steigern - und setzte mit Sf6 und e5 fort. Hier hatte er aber schon sein Gesicht in seinen Händen vergraben, denn nicht alle Fotografen hielten sich an die Anweisung, kein Blitzlicht zu verwenden.
Carlsen war über die Menge der Fotografen nicht besonders erfreut. Zum Glück musste er sie aber nur 5 Minuten lang ertragen. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Der Sweschnikov-Sizilianer, der im Jahr 2012 von Boris Gelfand erfolgreich gegen Vishy Anand eingesetzt wurde, war als Lasker-Pelikan bekannt, bevor der lettisch-russische Großmeister Evgeny Sweschnikov die Eröffnung in den 1960er und 70er Jahren populär machte. Das "Loch" auf d5 wurde damals jedoch noch als äußerst anti-positionell betrachtet.
A historically significant game, played by Gennady Timoshchenko and Evgeny Sveshnikov, originators of the Chelyabinsk Variation, in the Pioneers' Palace of their home city in June 1965. From '#Chess in the USSR' (No. 3, 1982). pic.twitter.com/kLDhrHMMLZ
— Douglas Griffin (@dgriffinchess) September 29, 2018
Eine historisch bedeutsame Partie, gespielt von Gennady Timoshchenko und Evgeny Sveshnikov, den Begründern der Tscheljabinsk-Variante, im Pionierpalast ihrer Heimatstadt im Juni 1965. Aus " #Chess in the USSR " (Nr. 3, 1982).
— Douglas Griffin
Natürlich war Caruana davon nicht überrascht. Er hatte die Nebenvariante mit 7.Sd5 vorbereitet und vielen Experten gefiel diese Wahl.
Nakamura sagte: "Es geht ums Rechnen. Deshalb denke ich, dass 7.Sd5 ein ziemlich brillanter Schachzug war. Man muss mit Weiß nur eine Handvoll Züge berechnen und darin ist Fabiano großartig."
Es ist aber überhaupt nicht sicher, ob Caruana diese Variante noch einmal versuchen wird. Nakamura: "Es ist eine sehr gute Überraschung für eine Partie, aber wenn der Gegner und das Team Zeit haben, sich das genauer anzuschauen, denke ich nicht, dass es ein zweites Mal funktionieren wird."
7.Nd5 in the Sveshnikov is a relatively small battleground compared to the mainlines, where Carlsen must have spend ages in preparation for the match. Smart choice. #CarlsenCaruana
— Erwin l'Ami (@erwinlami) November 19, 2018
7.Sd5 im Sweschnikov eröffnet im Vergleich zu den Hauptvarianten, mit denen Carlsen sicher eine lange Zeit in der Vorbereitung verbracht hat, nur ein relativ kleines Schlachtfeld. Clevere Wahl.
— Erwin l'Ami
Es war Carlsens 27. Sweschnikov in seiner Karriere, aber erst das dritte Mal, dass er auf 7.Nd5 traf. Interessanterweise saß ihm einmal dabei Caruanas Sekundant Rustam Kasimzdhanov gegenüber. Caruana spielte dann 9.a4. Sein Helfer hatte sich im Jahr 2007 für 9.c4 entschieden.
Caruana war auf die Sweschnikov-Variante bestens vorbereitet. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Nakamura war überrascht, dass Carlsen a4-a5 zuließ und er war sich auch beim Zug 14...e4 ("ein sehr großes Zugeständnis"), ein Zug, der von einer Korrespondenzpartie aus dem Jahr 2015 abwich, nicht sicher. Dies könnte die Grundlage für Carlsens spätere Probleme gewesen sein.
Beide Seiten bekamen einen starken Springer und zusammen mit der Bauernstruktur (Bauernmehrheit für Weiß am Damenflügel und eine für Schwarz am Königsflügel) wies alles auf ein hyper-scharfes Mittelspiel hin.
Carlsens 18...g5, gespielt nach 14 Minuten nachdenken, war jedoch laut Nakamura zu "wackelig" und "kein Magnuszug". Der amerikanische GM sagte, dass ihm Kasparov einmal gesagt hatte, dass Carlsen "niemals Schwächen durch eigene Bauernvorstöße schaffen will".
Carlsen war über seine Stellung im Mittelspiel nicht besonders glücklich. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Nach 20.Lc3 musste Carlsen erneut lange nachdenken (dieses Mal 21 Minuten) und danach hatte er nur noch 34 Minuten Bedenkzeit übrig, gegenüber Caruanas 87 Minuten. Zum ersten Mal bei dieser Weltmeisterschaft stand Schwarz aufgrund einer sehr guten Vorbereitung von Weiß unter Druck.
Die Journalisten in London und die tausenden Schachfans auf der ganzen Welt erwarteten mit Spannung den 21. Zug. Würde Caruana 21.c5 spielen, den Sesse mit +2.45 bewertete? Und warum dachte er so lange nach?
Will he go 21.c5? Journalists and thousands of chess fans only have this on their mind right now. @MagnusCarlsen probably too. #CarlsenCaruana pic.twitter.com/mKo45aNMzb
— ChesscomNews (@ChesscomNews) November 19, 2018
Wird er 21.c5 spielen? Journalisten und tausende Schachfans haben nur diesen einen Gedanken. @MagnusCarlsen wahrscheinlich auch.
— ChesscomNews
Nach 33 Minuten spielte er den Zug.
"Ich habe eigentlich über keinen anderen Zug als 30.c5 nachgedacht," sagte Caruana bei der Pressekonferenz. "Ich wollte aber trotzdem darüber nachdenken, bevor ich ihn spiele.. Ich wollte eine Möglichkeit finden, damit d6 funktioniert. Das fühlte sich natürlich an."
Carlsen schlug dann schnell auf f3 und c5, während Caruana 3 Minuten über 23.Tad1 nachdachte. Sesses Stellungsbewertung ging jetzt etwas zurück, denn der Supercomputer hätte 23.Tae1 bevorzugt, während die meisten Experten mit dem Turmmanöver Tf1-e1-e6 und einem Qualitätsopfer liebäugelten. Der wirkliche Fehler war dann aber 24.h3.
Carlsens Antwort auf diesen Zug kam schnell und es wurde klar, dass er das schlimmste überstanden hatte. Ab hier spielte er stark weiter und bewies, dass Weiß seinen Vorteil vollständig eingebüßt hatte.
“Das ist Magnus größte Stärke: Wenn er schlechter steht findet er immer die besten Züge," sagte Nakamura. "Nur weil er unter Druck steht, heißt das noch lange nicht, dass Du ihn auch hast," wird Caruana später bei der Pressekonferenz zu dieser Phase der Partie sagen.
Hier ist Alex Yermolinskys Meinung über die 8. Partie:
Warum hat Caruana also heute nicht gewonnen? Der Grund dafür ist wohl eine typische Eigenheit des Schachspiels: Der Angreifer hat meistens mehr Züge zur Auswahl als der Verteidiger und das macht es schwieriger, den besten zu finden.
"Es gab so viele Momente, bei denen ich mehrere Optionen hatte," sagte Caruana. "Ich glaube 21.c5 war richtig und ich weiß nicht, ob es nach 21...dxc5 etwas anderes gibt. Natürlich hatte ich einige Möglichkeiten. 22.d6 war eine davon und ich habe auch darüber nachgedacht."
Der Amerikaner gab zu, dass 24.h3 nicht der beste Zug gewesen sei (unser Analyst Sam Shankland gab dem Zug sogar zwei Fragezeichen! Eines für den Zug selbst und das zweite wahrscheinlich aus Enttäuschung! "In vielen Varianten kommt er zu …g4 und …f3 und ich wollte das entschärfen," sagte Caruana. "Vielleicht hätte ich auf 24.Dh5 Lg6 25.Dh6 setzen sollten. I habe 24…De8 einfach unterschätzt."
Die Pressekonferenz. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Bei der Chess.com Live-Show lobte Nakamura Caruana zwar für sein Spiel, kritisierte ihn auch als "nicht besonders guten Schnellschach und Blitzspieler, weil ihm die Intuition, das natürliche Gefühl, fehlt."
Als Caruana darauf angesprochen wurde, antwortete er: “Was soll ich dazu sagen? Hikarua hat eben diese Meinung. Ich fühle mich komisch, wenn ich über meinen eigenen Stil sprechen soll, also will ich eigentlich nicht darüber sprechen."
Caruana bei der Pressekonferenz. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Nachdem bei der Pressekonferenz bereits einige Fussballausdrücke verwendet wurden, wurde Carlsen von einem Journalisten gefragt, ob er sich schon auf die "Verlängerung" freuen würde. "Bis es soweit ist, muss noch eine Menge Schach gespielt werden und ich bin mir sicher, dass es noch einige Drehungen und Wendungen geben wird," antwortete Carlsen.
Am 130. Geburtstag des dritten Weltmeisters, José Raúl Capablanca, endete die achte Weltmeisterschaftspartie zwischen Carlsen und Caruana also mit einem Remis und sie haben damit den Rekord aus dem Anand-Kasparov Kampf von 1995 eingestellt. Vor zwei Jahren hatte Carlsen in New York die achte Partie (nach 7 Remis) gegen Karjakin verloren ("Das war eigentlich ein Eigentor" —Carlsen) und wurde danach trotzdem noch Weltmeister.
Im Nachhinein entpuppte sich diese Niederlage als Weckruf für den Norweger. Nach der heutigen Partie wird er sicher keinen Weckruf mehr benötigen - und der Spielstand ist ausgeglichen.
Die Zuschauer können den Pressekonferenzen beiwohnen. | Foto: Maria Emelianova/Chess.com.
Mike Klein hat an diesem Artikel mitgewirkt.
Natürlich könnt ihr die Weltmeisterschaft live auf Chess.com verfolgen. Ferner findet ihr jeden Tag Berichte, Fotos und Analysen auf Chess.com/news.
Alle Partien könnt ihr auf Chess.com/wcc2018 nachspielen und die Live-Übertragungen mit unseren Kommentatoren IM Danny Rensch und GM Robert Hess findet ihr auf Twitch.tv/Chess oder Chess.com/TV. Die beiden werden außerdem abwechselnd von Schachgrößen wie Hikaru Nakamura, Maxime Vachier-Lagrave, Wesley So und Sam Shankland unterstützt.
GM Alex Yermolinsky wird jeden Tag ein Video mit den Höhepunkten des Tages veröffentlichen, welches ihr auf Twitch, YouTube, Facebook und Chess.com ansehen könnt.
US-Meister GM Sam Shankland wird jede Partie für euch analysieren.
Und an jedem Ruhetag wird euch GM Yasser Seirawan mit exklusiven Videos für Chess.com Mitglieder unterhalten
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