Nepomniachtchi erspielt sich einen großen Vorteil aber Ding entkommt ihm
Heute hat in der kasachischen Hauptstadt Astana die erste FIDE Weltmeisterschaft seit über 10 Jahren ohne Magnus Carlsen begonnen. Es gibt zwar keinen Titelverteidiger, aber mit Ian Nepomniachtchi immerhin einen wiederkehrenden Herausforderer, der die Prozeduren einer Vorbereitung auf eine Weltmeisterschaft und den Druck und die Angst im Vorfeld der ersten Partie schon kennt. Ding Liren hingegen betritt für ihn noch unbekanntes Neuland und der Druck, das Interesse der Medien und nicht zuletzt das Spiel seines Gegners machten ihm gehörig zu schaffen.
Nach dem Zug 27.Df4 schien die Invasion am Damenflügel nicht mehr verhinderbar zu sein und Nepomniachtchi kurz vor dem Sieg, aber mit den folgenden Zügen ließ er einen Großteil seines Vorteils verstreichen. Nachdem im 37. Zug die Damen getauscht wurden, war das Remis bereits absehbar, aber der Handschlag erfolgte erst im 49. Zug.
Die zweite Partie beginnt am Montag, dem 10. April, um 11.00 Uhr.
Nach der Partie gab Ding zu, dass er sich selbst beim ersten Zug nicht sicher war, was er spielen sollte und dass er sich erst am Brett für 1...e5 entschieden hatte. "Ich dachte auch an einige andere Züge, aber am Ende habe ich mich für ...e5 entschieden."
"I thought of some other moves, but in the end, I decided to play ...e5."
—Ding Liren
So war es fast logisch, dass es Nepomniachtchi war, der mit den weißen Steinen eine schöne Neuerung aufs Brett brachte. Sein Schlagen 6.Lxc6 in der spanischen Eröffnung brachte die Partie in weniger befahrene Gewässer und der Zug 7.Te1 führte zu einer Stellung, die in weniger als 100 Meisterpartien in der Datenbank von Chess.com gespielt wurde. Ding selbst war dieser Variante überhaupt noch nie ausgesetzt, da alle seine Gegner immer 7.d3 gespielt hatten. Einer dieser Gegner war Carlsen, den Ding beim Tata Steel Chess India-Turnier 2019 nach diesem Zug besiegt hatte. Der Weltmeister gab auf Twitter zu, dass 7.Te1 eine neue Idee für ihn war, aber sein ehemaliger Sekundant Jan Gustafsson, der die ersten neun Partien dieser WM zusammen mit Steve Berger auf Chess.com kommentiert, versicherte ihm, dass sie sich diesen Zug bei der Vorbereitung auf vergangene Weltmeisterschaften angesehen hatten.
Did we check this for 2016 or 2021? I had no idea 7.Re1 existed https://t.co/Pj3mar1zP0
— Magnus Carlsen (@MagnusCarlsen) April 9, 2023
Obwohl Nepomniachtchis Ansatz auf den ersten Blick nicht besonders ambitioniert aussah, ergaben sich für ihn bereits früh in der Partie taktische Chancen, denn mit dem raffinierten Zug 14.h3 hätte er nach 14...Dxd4 und 15.Sd5 bereits Material gewonnen.
Nepomniachtchi spürte die Gelegenheit in der Stellung und dachte auch über 20 Minuten über den vorherigen Zug 13.Sc3 nach, aber letztendlich ließ er diese geniale Idee verstreichen. Stattdessen entschied er sich für den ebenfalls starken Zug 15.Sf5. Ding hätte diesen Springer eliminieren sollen, aber nachdem er darauf verzichtet hatte, begann eine lange Manöverphase. Nepomniachtchi konnte die schwarzen Bauern am Damenflügel unter Druck setzten und dieser Druck führte schließlich zu dem Zug 25...c6 von Ding Liren, der zu erheblichen langfristigen Schwächen führte.
Whoa 25…c6 is shocking! Looks sooo ugly, the Queenside pawns and d6 are eternal weaknesses now. pic.twitter.com/zq23hzilsn
— Jan Gustafsson (@GMJanGustafsson) April 9, 2023
Tatsächlich konnte Nepomniachtchi danach den aufgeweichten Damenflügel angreifen und nach dem Zug 27.Df4 stand er kurz vor dem Gewinn. Anish Giri, der in der englischsprachigen Übertragung von Chess.com als Kommentator fungierte, spekulierte, dass Ding wohl den Zug 28.Dc7 übersehen hatte. Mit einer fast gewonnenen Stellung auf dem Brett und einem großen Vorteil auf der Uhr schien Nepomniachtchi drauf und dran zu sein, die erste Partie zu gewinnen.
Giri thinks that Ding might have overlooked that 28.Qc7! was the threat here, rather than the relatively innocuous 28.Qb8#NepoDing pic.twitter.com/GtGfzKYtt7
— chess24.com (@chess24com) April 9, 2023
Der Vorstoß 31.f4 war für Ding dann wie eine Chance auf ein zweites Leben und er nahm die Chance wahr. Jetzt fühlte es sich an, als hätte eine neue Partie begonnen. Nepomniachtchi hatte zwar weiterhin die bessere Stellung, aber er war sich völlig im Klaren, dass er eine große Chance ausgelassen hatte. Hikaru Nakamura kommentierte im Chat, dass Nepomniachtchi durch das Wissen um die verpasste Gelegenheiten getiltet zu sein schien.
In der Zeitnotphase vor dem 40. Zug schwankte die Bewertung der Engine dann noch mehrfach zwischen Ausgleich und starkem Vorteil für Nepomniachtchi, aber die Dynamik schien jetzt auf Dings Seite zu sein. Kommentator Daniel Naroditsky stellte fest: "Das ist jetzt ein anderer Ding." Nach dem Damentausch im 37. Zug war dann aber die Luft aus der Stellung und nach 49 Zügen reichten sich die Spieler die Hand.
In der Pressekonferenz nach der Partie sprach Ding offen und ehrlich über seine Kämpfe mit dem Druck und den Emotionen dieser WM. Während Fans und Experten verstehen, dass Druck in einer Weltmeisterschaft eine große Rolle spielt, sprechen die Spieler während einer WM normalerweise nur sehr ungern über diese Erfahrung. Mit einer Partie auf dem Buckel und einem Remis im Sack hofft Ding vielleicht bald sein bestes Schach zeigen zu können.
Ding Liren about the game:
— International Chess Federation (@FIDE_chess) April 9, 2023
"I'm not happy; I'm a little bit depressed. During the game, I felt a flow of inconsistency. In the first part of the game, I couldn't concentrate and think about chess. My mind was full of memories and feelings. Maybe I couldn't calculate because of… pic.twitter.com/PmE9ZIsZ69
Der Spielstand
Name | Elo | 01 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | Punkte |
Ding Liren | 2788 | ½ | .. | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | ½ |
Ian Nepomniachtchi | 2795 | ½ | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | . | ½ |
Zum Weitersurfen: