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Nepomniachtchi gewinnt mit Schwarz
Ian Nepomniachtchi. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Nepomniachtchi gewinnt mit Schwarz

beccrajoy
| 0 | Berichterstattung von einem Schach-Event

Bei der FIDE Weltmeisterschaft 2023 mussten die Schachfans nicht lange auf den ersten Sieg warten. Bereits in der zweiten Partie schlug Ian Nepomniachtchi mit den schwarzen Steinen zu und besiegte Ding Liren. Nach einer etwas seltsamen Neuerung im vierten Zug geriet der WM-Neuling Ding schnell auf die schiefe Bahn und musste sich nach nur 29. Zügen geschlagen geben.

Die dritte Partie beginnt am Mittwoch, dem 12. April, um 11.00 Uhr

So könnt Ihr die FIDE Weltmeisterschaft 2023 ansehen:
Wir übertragen alle Partien der FIDE Weltmeisterschaft 2023 mit Kommentaren von Steve Berger und interessanten Gästen wie Jan Gustafsson und Fiona Steil-Antoni auf Chess.com/TV, Twitch und YouTube. Die englischsprachige Übertragung findet Ihr auf https://www.youtube.com/@chesscomlive
Hier seht Ihr die Aufzeichnung der Übertragung der zweiten Partie:
Kommentatoren: Steve Berger und Jan Gustafsson

Die Partie verließ bereits im vierten Zug bekannte Gefilde, denn Ding hatte für den Zug 4.h3 entschieden, anstatt wie erwartet mit 3.g3 in eine katalanische Eröffnung zu gehen. Bei Nepomniachtchi löste dieser Zug zuerst ein Stirnrunzeln und dann ein 20 Minuten langes Nachdenken aus. Kommentator Giri hatte auf den Zug dagegen sofort eine Antwort parat: "Oh nein, dass muss ein Maus-Slip gewesen sein! - Der g-Bauer ist der andere..."

Im klassischen Schach auf höchstem Niveau war dieser Zug noch nie zuvor gespielt worden, aber bei einer Titled Tuesday Partie hatte in schon Großmeister Meshkovs gegen Polina Shuvalova versucht - auch dort mit bescheidenem Erfolg.

Bei der Pressekonferenz bestätigte Ding die Vermutung aller Experten, dass er bei diesem Zug von seinem Sekundanten Richard Rapport beeinflusst worden war. Nepomniachtchi sagte, dass er diesen Zug zwar nicht erwartet hatte und sogar schon 4.g3 auf sein Partieformular geschrieben hatte, bis er bemerkte, dass der h-Bauer gezogen worden war. Er dachte jedoch auch, dass es trotzdem ein "normaler Zug" sein sollte, der nicht viele Komplikationen aufwirft.

Anhand der Bedenkzeit, die beide Spieler in den nächsten paar Zügen verbrauchten, war klar, dass Ding in seiner Vorbereitung war, während Nepomniachtchi bereits völlig auf sich gestellt war. Wie Kommentator Anish Giri erklärte, bestand die Schwierigkeit für Nepomniachtchi darin, dass er nicht mehr "aus einem Menü auswählen" konnte, sondern im Prinzip gegen Züge einer Engine mit einer Spielstärke von 3600, die ja hinter Dings Vorbereitung stand, spielen musste.

Nepomniachtchi holding up his hands to his face while deep in thought
Nepomniachtchi denkt nach, wie er auf Dings Neuerung reagieren soll. Foto: Maria Emelianova/Chess.com

Bis zum Zug 11...Sa5 schien für den Chinesen alles nach Plan verlaufen zu sein, aber nach diesem Zug benötigte Ding über 20 Minuten, um ans Brett zurückzukehren, was bei Zuschauern und Kommentatoren Besorgnis hervorrief. Sogar Nepomniachtchi war vor seinem Gegner ans Brett zurückgekehrt.

Während Giri anfangs noch spekulierte, dass sich Ding sicher noch in der Vorbereitung befinde und sich nur Zeit nehme, um zu entscheiden, welchen Zug er wählen soll, wurde diese Theorie widerlegt, als die Zeit auf Dings Uhr unter die seines Gegners tickte und sich schließlich nach fast 34-minütigem Nachdenken für den Zug 12.Sxf6 entschied.

The position after black's 11th move
Ein kritischer Moment. Weiß hat die Optionen 12.Sxf6 und 12.Sxc5. Ding entschied sich für die erstere.

Nach der Partie identifizierte Ding das Schlagen auf f6 als den kritischen Moment, nach welchem seine Stellung auseinanderzufallen begann. Die Kommentatoren waren überrascht, dass sich der Chinese gegen das Schlagen auf c5 entschied, mit dem er eine identische Stellung (bis auf den Bauern auf h3) gegen Levon Aronian in der Speed Chess Championship 2021 gewonnen hatte.

Nach dem Zurückschlagen auf f6 mit seinem Bauern – ein Zug, den Ding nach eigenen Angaben übersehen hatte – hatte Nepomniachtchi eine kompakte Bauernstruktur und eine offene g-Linie. Es war eine Bauernstruktur, die an die berüchtigte sechste Partie seines WM-Matches 2021 gegen Magnus Carlsen erinnerte. Glücklicherweise stand der schwarze König in dieser Partie aber nicht auf g8 und nur wenige Züge später schlug der Bewertungsbalken schon zugunsten von Schwarz aus und die Stellung begann, Nepomniachtchis Spielstil mehr zu liegen als Dings Stil.

Zu diesem Zeitpunkt begann sich Giri zu fragen, ob der Bauer auf h3 nützlich war oder ob er in den Verteidigungsressourcen von Weiß fehlen könnte, da der Druck auf der g-Linie und auf der a8-h1 Diagonale zunahm. Auf der Pressekonferenz nach der Partie teilte Nepomniachtchi diese Gefühle, obwohl auch er nicht sagen konnte, dass h3 wirklich schlecht war.

Ein paar Züge später wurde die Stellung immer komplexer und Dings Zeit fiel immer weiter unter die seines Gegners. Während das Material gleich blieb, war der Angriffsplan von Schwarz viel klarer und bereits im 16. Zug prophezeiten die ersten Experten, dass Ding die Partie verlieren würde.

Mit nur noch 45 Minuten Bedenkzeit für die nächsten 23 Züge entschied sich Ding für den ungenauen Zug 17.Ld3 und legte sich damit auf eine defensive Aufstellung, bei der er den Läufer zur Verteidigung auf f1 zurückziehen würde, fest. Unglücklicherweise hatte Nepomniachtchi aber nach dem Zug 18...f5 ein Doppelturmopfer im Puzzle-Rush-Stil in petto, sollte Weiß auf f5 schlagen. Und zu allem Überfluss verhinderte auch noch die Drohung auf e4 Dings Lf1-Manöver. 

Ding wich der Taktik aus und musste den bescheidenen Rückzug 19.Lc2 spielen. Dann fand Nepomniachtchi blitzschnell die besten Antworten und dem Chinesen gingen nicht nur die Züge, sondern langsam aber sicher auch die Bedenkzeit aus. Nachdem Nepomniachtchi dann eine Qualität geopfert hatte, um das weiße Zentrum zu zerstören, war das Hissen der weißen Flagge nur noch eine Frage der Zeit.

Der endgültige Sargnagel war dann Nepomniachtchis Vorstoß 29...e5, nachdem der weiße Turm nur noch ein Feld hatte und auf diesem Feld hätte er die Umwandlung des Bauern auf c2 erlaubt und der andere Turm wäre Geschichte gewesen. Das wollte sich dann Ding nicht mehr ansehen und gratulierte seinem Gegner mit 43 Sekunden auf der Uhr zum Sieg.

Ding with his head down during the game
Ding Liren. Foto: Maria Emelianova/Chess.com

Großmeister Rafael Leitao erklärt uns die Partie:

Hikaru Nakamura hat die Partie natürlich ebenfalls analysiert:

Und auch die Großmeister Fabiano Caruana und Cristian Chirila haben sich die Partie angesehen:

Dass bei einer Weltmeisterschaft bereits in der zweiten Runde ein Sieg gefeiert werden kann, kommt in der Neuzeit nur sehr selten vor und Nepomniachtchi befindet sich mit diesem Erfolg in einer sehr elitären Gesellschaft. Das letzte Mal, dass bereits so früh eine Partie gewonnen wurde, war 2014 beim Rückkampf von Magnus Carlsen gegen Viswanathan Anand und dass Schwarz schon in der zweiten Partie gewinnen konnte, passierte zum letzten Mal 2006 beim "Toiletgate-Match" zwischen Vladimir Kramnik und Veselin Topalov.

Die Niederlage ist zweifellos ein Schlag ins Gesicht für Ding, der bereits nach der ersten Partie gesagt hatte, dass er während der Partie mit Nervosität, Angst und Emotionen zu kämpfen hatte. Jetzt, nachdem er seinen Gegner erfolgreich mit einer Eröffnungsneuheit überrascht hatte, wird die Niederlage doppelt schmerzhaft sein, aber mit einem Sekundanten, der so kreativ ist wie Richard Rapport, ist es wahrscheinlich nicht die einzige Neuerung, mit der sich Nepomniachtchi noch beschäftigen muss.

Ding smiling during press conference
Immerhin konnte Ding während der Pressekonferenz noch lächeln. Foto: Maria Emelianova/Chess.com

Auf Twitter wurde während der Partie viel diskutiert, warum die Spieler während der Partie so wenig Zeit auf ihren Stühlen verbringen, denn einen Großteil der Partie konnten die Zuschauer nur zwei leere Sessel bewundern und im Gegensatz zur ersten Partie waren heute im Ruhebereich der Spieler keine Kameras aufgebaut.

Als er bei der Pressekonferenz danach gefragt wurde, nannte Ding die vertraute und beruhigende Natur des Ruheraums, von dem er sagte, dass er ihn an die Zeit der Pandemie, als er nur Online spielen konnte, erinnere. Er sagte, es fühle sich einfach anders an als Over-the-Board-Schach und deshalb kommt er nur in Zeitnot ans Brett.

Nepomniachtchi stimmte dem zu und sagte, er denke nicht, dass es zeitliche Einschränkungen geben sollte, wie lange sich Spieler in den Ruheräumen aufhalten dürfen, wenn sie das Gefühl haben, dass es dort bequemer ist. Er fügte hinzu, dass er auch bei seinem ersten WM-Match viel Zeit im Ruheraum verbracht hatte, aber das lag daran, "dass ich mich dort einfach nicht von den Snacks trennen konnte."

Nepomniachtchi smiling during the press conference as WGM Keti Tsatsalashvili and Ding look on
Nepomniachtchi brachte bei der Pressekonferenz alle zum Lachen. Foto: Maria Emelianova/Chess.com

Über den Ruhetag sagte Nepomniachtchi, dass es ihm schwerfällt, sich einen absolut schachfreien Tag vorzustellen und dass er wahrscheinlich seiner Standardroutine folgen wird: Schlaf nachholen, entspannen und auf die dritte Partie vorbereiten. Ding plant, den Tag zu nutzen, um sich von einer "harten Niederlage" zu erholen und kehrt dann ebenfalls zu seiner Routine zurück. Diese besteht daran, mit seinen Sekundanten die Partien zu analysieren und mit ihnen zu spielen.

Nepomniachtchis Sieg bringt sein Live-Rating auf 2799,8 und damit hat er nicht nur die Chance Weltmeister zu werden, sondern auch als 15. Spieler der Geschichte die 2800 Elo-Schallmauer zu durchbrechen. Ding ist jedoch für sein starkes und solides Spiel bekannt und es ist durchaus möglich, dass ein Tag Pause alles ist, was er braucht, um sich neu zu orientieren und die richtige Einstellung zu finden, um in der dritten Partie ein Comeback zu starten. Auf jeden Fall steht uns eine spannende Partie bevor!

Der aktuelle Spielstand

Name Elo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 Punkte
Ding Liren 2788 ½ 0 ½
Ian Nepomniachtchi 2795 ½ 1

Die FIDE-Weltmeisterschaft 2023 ist das wichtigste Schach-Event des Jahres und entscheidet, wer der nächste Weltmeister wird. Ian Nepomniachtchi und Ding Liren spielen ein Match, um zu entscheiden, wer Carlsens Thron übernimmt, nachdem der aktuelle Weltmeister seinen Titel niedergelegt hat. Das Match ist mit 2 Millionen Euro dotiert und wird über 14 klassische Partien gespielt. Der erste Spieler, der 7.5 Punkte erzielt, gewinnt.


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