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Bobby Fischers genialster Schachzug

Bobby Fischers genialster Schachzug

Gserper
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Großmeister Bobby Fischer hat hunderte brillanter Züge gespielt und es ist schwer zu sagen, welcher davon der schönste ist. Man könnte argumentieren, dass der Zug 19.Tf6!! gegen Pal Benko die Kirsche auf der Sahnetorte war.

Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass er seinen stärksten Zug, den Zug, der ihn zum Weltmeister gemacht hat, gar nicht am Schachbrett gespielt hat. Ich spreche natürlich von der berüchtigten zweiten Partie der Schachweltmeisterschaft 1972 gegen Boris Spassky.

1972 World Chess Championship Bobby Fischer Boris Spassky

Um wirklich zu verstehen, was an diesem denkwürdigen Tag, als Fischer nicht zur Partie erschien, passiert ist, betrachten wir die offensichtlichen Fakten. Vor ihrem WM-Match spielten Spassky und Fischer fünf Partien. Dreimal hat Spassky gewonnen und zwei Partien endeten Remis. Es war aber nicht einmal diese katastrophale Bilanz, die Fischer deprimierte. Diese Partien zeigten Spasskys totale Dominanz in allen Elementen des Schachs.

Wenn Ihr lernen möchtet, wie man ein kompliziertes Mittelspiel spielt und Eure taktischen Fähigkeiten verbessern möchtet, ist die folgende Partie genau die Richtige für Euch. Die letzte kleine Kombination hat es in hunderte Bücher über Taktiken geschafft und ich bin mir sicher, dass Ihr sie schon mal gesehen habt.

Und falls Ihr Eure Endspiel-Fähigkeiten verbessern möchtet, solltet Ihr Euch die nächste Partie sehr genau ansehen und dabei besonders auf den Zug 35.h4!! achten. Damit fixiert Weiß den schwachen schwarzen Bauern auf g6:

Spassky spielte auch alle möglichen Eröffnungen. Von der soliden spanischen Eröffnung bis hin zum verrückten Königsgambit!

Fischer hatte aber noch ein weiteres Problem und das war rein psychologischer Natur: Spassky hatte keine Angst vor Fischer! Einige Leute sagen, dass das keine große Sache ist, aber alle Schachspieler wissen, dass das eben schon eine große Sache ist!

Ich werde nie einen Vortrag von einem der größten Schachtrainer der Welt, Mark Dvoretsky, vergessen. Das war 1984 und Dvoretsky sprach mit den besten sowjetischen Nachwuchsspielern. Da waren unter anderem Boris Gelfand, Vasyl Ivanchuk, Aleksey Dreev und Evgeny Bareev dabei. Und natürlich kam Dvoretsky dabei auf Garry Kasparov, der schon bald darauf gegen Anatoly Karpov um die Weltmeisterschaft spielen würde, zu sprechen.

Garry Kasparov
Kasparov 1985. Foto: Rob Bogaerts/Dutch National Archives, CC.

Dvoretsky erklärte, dass Kasparovs Gegner in vielen Partien so viel Angst vor ihm hatten, dass sie nicht in der Lage wären, ihr bestes Schach zu spielen. Abschließend sagte er etwas, das ich mir noch während des Vortrags sofort in mein Notizbuch geschrieben hatte. Dvoretsky sagte, das Beste, was einem Schachspieler passieren könne, sei, wenn seine Gegner Angst vor ihm hätten. Erst viele Jahre später habe ich Dvoretskys Weisheit wirklich geschätzt. Betrachten wir diesen Aspekt des professionellen Schachs aus Fischers Perspektive. Die meisten Top-Spieler der Welt hatten tatsächlich Angst vor Fischer.

Sehen wir uns die Partien an, die Fischer gegen Tigran Petrosian gespielt hat. Fischer wusste genau, dass Petrosian wirklich Angst vor ihm hatte und das gab ihm einen psychologischen Vorteil. Es ist wie eine Schwimmweste. Immer wenn Fischer das Gefühl hatte, dass es bergab ging, konnte er ein Angebot machen, das Petrosian nicht ablehnen konnte. In vielen Partien, in denen sich die beiden auf ein Remis einigten, hatte Petrosian eine deutlich bessere Stellung. Sehen wir uns dieses Beispiel an:

Fischer dachte die meiste Zeit, dass er die Partie gewinnen würde. Und was hat er getan, als er merkte, dass sich seine Stellung rapide verschlechtert hatte? Ja, er hat einfach ein Remis angeboten! Das sagt Fischer in seinem Buch dazu: "Ich habe ihm Remis geboten und Angst gehabt, dass er es nicht annehmen würde, denn hier steht Schwarz sicher besser." Schachengines stimmen Fischers Einschätzung zu und bewerten die Stellung mit -1,25! Trotzdem war Petrosian mit einem Remis zufrieden.

Einen weiteren Beweis liefert der aufschlussreiche Kommentar von Mark Taimanov über eines der Duelle im Kandidatenturnier 1971:

"Und hier überkam mich ein Zustand der Hilflosigkeit oder gar der Verzweiflung: 'Ist dieser Fischer unverwundbar oder ist er irgendwie verhext?' Aber die Zeit verging und ich bekam Probleme auf der Uhr. Ich dachte 72 Minuten lang über diese Stellung nach! In dem halben Jahrhundert, seit dem ich spiele, habe ich noch nie so lange über einen Zug nachgedacht! Und psychisch bin ich einfach zusammengebrochen. Meine Energie versiegte, Apathie folgte, alles um mich herum verlor den Sinn und ich machte den ersten Zug, der mir in den Sinn kam und der sich als Verlustzug herausstellte..."

Mark Taimanov Bobby Fischer
Taimanov 1970. Foto: Joost Evers/Dutch National Archives, CC.

Wenig überraschend gewann Fischer das Match mit 6:0!

Bei Spassky lagen die Dinge jedoch ganz anders. Jede Partie, egal ob mit Weiß oder Schwarz, spielte der sowjetische Großmeister auf Sieg! In der folgenden Partie spielte er sein Markenzeichen, den Marshall Angriff.

Fischer reiste zu diesem WM-Kampf gegen Spassky also mit einem negativen psychologischen Ballast im Gepäck an. Der Anfängerfehler in der ersten Partie war da nicht gerade hilfreich:

Fischers Situation wurde kritisch. In seiner bisherigen Karriere hatte er viermal gegen Spassky verloren, noch nie gewonnen und war vom amtierenden Weltmeister total dominiert worden. In dieser verzweifelten Situation fand Fischer eine unerwartete Lösung: Er erschien nicht zur zweiten Partie. Karpov nannte es "einen brillanten Schachzug". Tal sagte, dass das wohl "von einem hochqualifizierten Psychologen entwickelt und geplant wurde, obwohl es extrem riskant war".

Für manche mag Fischers Entscheidung völlig absurd erscheinen. Er gab in einem Kampf um die Weltmeisterschaft einen kampflosen Punkt ab. Wie kann das denn seine Ausgangslage verbessern oder die seines Gegners verschlechtern? Sehen wir uns an, wie sich dieser ungewöhnliche Schachzug auf Spassky ausgewirkt hat.

Wie bereits gesagt, hatte Spassky ja keine Angst vor Fischer. Er hat es sogar genossen, gegen Fischer zu spielen, wie er selbst bestätigte: "Vor einer Partie gegen Fischer habe ich immer diese besondere Leidenschaft gespürt, ohne die Höchstleistungen undenkbar sind. Vielleicht hat Fischer dabei sogar unfreiwillig seinen Teil dazu beigetragen. Ich habe auf jeden Fall immer gerne gegen Fischer gespielt."

Boris Spassky Bobby Fischer
Spassky und Fischer in einer der fünf Partien, die sie vor der WM gespielt haben. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Alamy.com.

Spassky und Fischer als Freunde zu bezeichnen wäre zwar etwas übertrieben, aber sie hatten eine Art Beziehung, die viele Jahre später, 1992, dazu beitrug, dass Fischer für ein weiteres Match gegen Spassky wieder zum Schach zurückkehrte. Abgesehen von ihrer bedingungslosen Liebe zum Schach verbanden die beiden Schachgiganten auch ähnliche Ansichten zu vielen nicht-schachlichen-Themen, zu denen leider auch Verschwörungstheorien und Antisemitismus gehörten

Deshalb freute sich Spassky auf das kommende Match mit Fischer und sagte vor der WM:

"Ich schätze Fischer sehr. Er ist ein wunderbarer Spieler. Ohne ihn wäre es in der Schachwelt langweiliger. Wenn ich einen Gegner für das Match aussuchen hätte können, hätte ich auf jeden Fall ihn gewählt. Ich weiß nicht, wie das Match enden wird, aber es wird auf jeden Fall interessant."

Bobby Fischer
Fischer gibt Autogramme. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Alamy.com.

Als Fischer zur zweiten Partie nicht erschienen war, fühlte sich Spassky sichtlich unwohl und sagte, es sei sehr schade. Und das war der Beginn des Untergangs des Weltmeisters. Bent Larsen beschrieb die Situation so: "Viele halten Fischer für ein "großes Kind" und teilweise ist das auch so. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Kinder manchmal sehr gerissen sind und sich sehr geschickt anstellen, um anderen ihren Willen aufzuzwingen. Ich selbst habe nach Denver und Petrosian hat nach Buenos Aires gewarnt, dass Spassky Fischer auf keinen Fall Zugeständnisse machen sollte und doch hat er in Reykjavik mehrmals pflichtbewusst Fischers Willen ausgeführt."

Die dritte Partie wurde in einem geschlossenen Hinterzimmer ausgetragen, in dem Berichten zufolge zuvor Tischtennis gespielt worden war. Fischer spielte in der Eröffnung eine relativ neue Idee, aber obwohl Spassky diese Idee kannte und sich sogar darauf vorbereitet hatte, war sein Spiel extrem schlecht und er verlor die Partie fast ohne Widerstand zu leisten.

Die natürliche Frage, was Spassky hätte tun sollen, um die Katastrophe zu vermeiden, hat Spassky selbst beantwortet: "Es gab nur eine Möglichkeit, wie ich dieses Match hätte gewinnen können: Ich hätte vor der dritten Partie, als Bobby anfing Ärger zu machen, einfach aufgeben sollen! Ich habe sogar darüber nachgedacht, aber ich war der Weltmeister und ich wollte mein Wort nicht brechen. Ich hatte versprochen, diese WM zu spielen. Als Ergebnis ruinierte ich meine Kampfstimmung und aus einem Schachfestival wurde einen Gerichtsverfahren.

Boris Spassky
Spassky 1970. Foto: Rob Mieremet/Dutch National Archives, CC.

Bei allem Respekt bin ich hier aber völlig anderer Meinung als Spassky. Wie er selbst sagte, wurde aus einem Schachfestival ein Gerichtsverfahren. Wie hätte der Verzicht auf die dritte Partie die festliche Stimmung wieder hergestellt? Wenn sich Johnny Depp und Amber Heard außergerichtlich einigen würden, würden sie dann wieder zu einem Liebespaar werden?

Ich habe schon ein paar Mal eine ähnliche Situation wie Spassky erlebt, aber natürlich auf einem viel niedrigeren Niveau. Als es das erste Mal passierte, war ich gerade erst 12 Jahre alt. Ich spielte gegen einen Erwachsenen, der zu spät zur Partie kam. Nach ungefähr 30 Minuten Wartezeit sagte mir einer der Jungs im Schachclub, dass er meinen Gegner am Abend vor dem Spiel völlig betrunken gesehen habe und er deshalb höchstwahrscheinlich überhaupt nicht zur Partie erscheinen würde. Also begann ich mich zu fragen, ob die Partie überhaupt stattfinden würde. Als 55 Minuten verstrichen waren und ich mir bereits absolut sicher war, dass er nicht kommen würde, tauchte mein Gegner dann doch auf. Ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass meine Lust auf die Partie da schon komplett verlogen war und ich so gut wie kampflos verlor.

Spassky war in einer ganz ähnlichen Situation. Vor der dritten Partie kursierten zahlreiche Gerüchte, dass Fischer bereits einen Heimflug aus Reykjavik gebucht habe und deshalb beschäftigte sich Spassky genau wie ich hauptsächlich mit der Frage, ob die Partie überhaupt stattfinden wird.

Unter solchen Umständen kann man aber kein vernünftiges Schach spielen. Leider bestand Spasskys einzige Chance meiner Meinung nach darin, auf keine der Forderungen von Fischer einzugehen, was aber zu einem Abbruch der Weltmeisterschaft geführt hätte.

Durch sein sportliches Verhalten hat sich Spassky weltweit Ansehen erworben – er zahlte dafür aber letztlich einen enormen Preis.

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