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Der Herausforderer: Ian Nepomniachtchi
Ian Nepomniachtchi

Der Herausforderer: Ian Nepomniachtchi

SavelijTartakover
| 22 | Schachspieler

Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass alle russischen bzw. sowjetischen Weltmeister der jüngeren Geschichte irgendwo im Hinterland dieses riesigen Landes geboren wurden und nicht in den Metropolen und Schachzentren Moskau oder Leningrad. Anatoly Karpov stammt aus der Kleinstadt Slatoust im Ural. In Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan und dem Geburtsort von Garry Kasparov, gab es damals nur eine handvoll starke Schachspieler. Vladimir Kramnik stammt aus Tuapse, einem Ferienort am Schwarzen Meer, und der ist nur unweit von Simferopol auf der Halbinsel Krim entfernt, der Heimatstadt von Sergey Karjakin, der zwar kein Weltmeister ist, aber immerhin 2016 um die Weltmeisterschaft gespielt hat.

Ian Nepomniachtchi (a.k.a. "Nepo") folgt diesem Trend, der womöglich darauf beruht, dass das Freizeitangebot fernab der Metropolen in den ehemaligen Sowjetländern überschaubar, und Schach somit sehr beliebt ist. Nepo wurde am 14. Juli 1990 in Brjansk geboren. Das ist eine alte Stadt mit 400.000 Einwohnern, 350 Kilometer südwestlich von Moskau.


Die Anfänge

Vor 30 Jahren war Schach in Brjansk auf dem Vormarsch. Evgeny Gleizerov wurde der erste Großmeister der Stadt und der berühmte Trainer IM Valery Zilberstein zog von Novosibirsk in die Stadt im Westen Russlands. Schon bald darauf hatte die Stadt ein Wunderkind mit hellen und klugen Augen und einer unheimlichen Gelehrsamkeit. Kein Wunder: Nepomniachtchis Großvater war ein regional bekannter Pädagoge und Lyriker. Ian lernte die Schachregeln, bevor er fünf Jahre alt war und im Alter von sieben Jahren konnte er seine ersten Erfolge feiern.

Ian hatte das Glück, von FM Valentin Ekimenko unterrichtet zu werden und der war von seinem Schüler fasziniert. Er begleitete Ian zu verschiedenen Turnieren und verbrachte fast seine gesamte verfügbare Zeit mit ihm. Die Fortschritte des Jungen waren beständig: erste Kategorie, Meisterkandidat, erste Siege gegen Meisterspieler und so weiter. 

Ekimenko erkannte schon bald, dass der aufstrebende Star einen besseren Trainer brauchte und übergab ihn an Valery Zilberstein, der 2005 verstarb, aber Ian während seiner prägenden Jahre trainiert hatte. Der dankbare Schüler richtet bis heute in Brjansk jährlich das Zilberstein-Gedächtnisturnier aus. Da Nepomniachtchi den Preisfonds anfangs selbst zur Verfügung stellte, waren die ersten Turniere noch überschaubar, aber das diesjährige Turnier wurde von der Regionalregierung unterstützt und das Zilberstein-Gedächtnisturnier 2021 wurde zu einem der stärksten Schachturniere Russlands. Aber kommen wir zurück zu Nepos Jugend.

Die ersten Erfolge

Trotz außergewöhnlich starker Konkurrenten, die auch 1989-1991 geboren wurden, und trotz der Tatsache, dass Nepomniachtchi lieber bei Erwachsenen- als bei Jugendturnieren spielte, wurde er schon bald Jugend Welt- und Europameister. Seine damalige Konkurrenz klingt wie das heutige who ist who des Schachs: Magnus Carlsen, Maxime Vachier-Lagrave, Dmitry Andreikin, Wang Hao, Le Quang Liem und Sergey Zhigalko. All diese Spieler wurden später sehr starke Großmeister. Genau wie auch Ians Freund Ildar Khairullin, der später ebenfalls Großmeister wurde und diesem Jahrgang entstammt. 

Auf nationaler Ebene wurde Ian von dem russischen Jugendtrainer GM Sergey Janovsky trainiert, der auch die unschätzbare und seltene Fähigkeit hatte, Sponsoren zu finden. Ian sagt, dass Janovsky nicht nur sein Trainer, sondern auch sein Freund war. Janovsky unterstützt seinen Lieblingsschüler in seiner Funktion als Cheftrainer verschiedener russischen Mannschaften bis heute.

Magnus - Teil 1

Nepomniachtchi und Carlsen trafen erstmals 2002 in der fünften Runde der U-12-Europameisterschaft im spanischen Peniscola aufeinander. Nepomniachtchi war mit einer Elo von 2344 einer der Favoriten (nur Vachier-Lagrave hatte mit 2359 eine bessere Elo aufzuweisen; Khairullin hatte 2339 und Andreikin 2332), während der Norweger mit einer Elo von 2250 nur zu den Außenseitern gehörte. Carlsen überraschte seinen Gegner mit der Aljechin-Verteidigung. Seine Stellung war besser, aber dann verlor er den Faden und Ian ließ sich diese Chance nicht entgehen. In der Abschlusstabelle lagen Nepomniachtchi und Carlsen mit jeweils neun Punkten gemeinsam auf dem ersten Platz, aber die Feinwertung sprach für Ian.

Im Jahr darauf spielten sie im griechischen Khalkidhiki in der Endrunde der U-14-Weltmeisterschaft eine entscheidende Partie. Der Sieger wird Meister und der Verlierer bekommt nicht mal eine Medaille. Carlsen wurde zu diesem Zeitpunkt mit 2450 bewertet – bereits etwas höher als Nepomniachtchis 2447 – und spielte aggressiver. Carlsen opferte einen Bauern, um die Initiative zu ergreifen und hielt das Feuer mit einem Qualitätsopfer und dann sogar mit einem zweiten am Brennen. Doch Nepomniachtchi schaffte es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er wehrte den Angriff ab und konnte die Partie am Ende gewinnen.

Zu dieser Zeit wurde Nepomniachtchi oft in der russischen Presse erwähnt und galt als das größte Schachtalent seiner Generation. Und Janovsky fand Top-Trainer für Ians Trainingseinheiten. Das junge Talent lernte viel von dem berühmten internationalen Meister Mark Dvoretsky, dem Entdecker der tiefsten Endspiellabyrinthe und Kasparovs Sparringspartner Sergey Shipov. Shipovs charakteristische Eröffnungsideen im Grünfeld, der französischen Verteidigung und in anderen kämpferischen Eröffnungen verwendet Ian bis heute.

Die nächsten Schritte

Im Alter von 12 Jahren hätte Nepomniachtchi fast die russische U-18-Meisterschaft gewonnen (nur Kasparov und GM Gata Kamsky können eine ähnliche Leistung vorweisen)! In der letzten Runde griff er den Tabellenführer GM Igor Kurnosov (der 2013 bei einem tragischen Verkehrsunfall verstarb) heftig an. Kurnosov hatte wenig Zeit, aber Ian übersah einen Damentausch und konnte danach den flinken Bauern seines Gegners nicht mehr aufhalten. Der Junge brach in Tränen aus und warf die Figuren vom Brett. Es sollte aber nur ein kleiner Stolperer bei seinem rasanten Aufstieg bleiben.

GM Ian Nepomniachtchi 2021 WCC
Nepomniachtchi 2008 in Dortmund. Foto: GF Hund, CC.

Bei den World's Youth Stars-Turnieren in Kirishi spielte Ian jedes Jahr mit und gewann die erste (2003) und fünfte (2007) Ausgabe des starken Events (nur Carlsen konnte aufgrund seines Schulplans nicht teilnehmen). 2004 spielte Nepo zum ersten Mal in der Russischen Meisterschaft und glich dort seine Bilanz gegen Kurnosov aus.

Er spielte viel bei Turnieren und versuchte buchstäblich jede Minute Schach zu spielen. Der Autor dieses Artikels sah Ian erstmals im Internet, wo der junge Nepomniachtchi in drei Minuten auf den Webseiten Chess Planet und PlayChess glänzte. Schon damals verfolgten Schachliebhaber mit Interesse die Karriere des Wunderkindes - er bestach mit seinem Talent und spielte perfektes Blitzschach. Obwohl diese Seiten natürlich nur die Pioniere des Internetschachs waren und in Bezug auf die Anzahl und Stärke der Spieler und Turniere und der Optionen nicht mit Chess.com vergleichbar sind, verbrachten selbst damals schon viele Spieler dort Tage und Nächte.

Frühe Eröffnungen

Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir auf Chessplanet geplaudert haben und Ian mir eine Falle gezeigt hat, die er von Igor Zaitsev, einem von Karpovs Trainern, gelernt hat. Ja, der Chefwissenschaftler des Eröffnungslabors des Weltmeisters hat auch Nepo trainiert.

Nicht alle Eröffnungsideen von Nepomniachtchi haben den Test der Engines bestanden, aber er hat einen sehr kreativen und unverwechselbaren Ansatz. Ich war zum Beispiel immer erstaunt über seine Behandlung der französischen Verteidigung:

Danach zieht der weiße Turm nach h3 und plötzlich hat Nepomniachtchi einen starken Angriff! Er hat schon viele Freundschaftspartien mit dieser Variante gespielt und später sogar Ding Liren damit zweimal im Schnellschach geschlagen.

Das große Jahr

Bei den Moskau Open 2006 habe ich Nepomniachtchi persönlich kennengelernt. Seine Spielweise war unglaublich – er schien alles zu sehen und verbrachte keine Zeit mit Nachdenken. Ähnlich wie der junge Viswanathan Anand nutzte er nicht einmal das Inkrement voll aus und hatte am Ende einer Partie meist mehr als zwei Stunden auf der Uhr, während seine Gegner unter Zeitnot zu leiden hatten. Dieses Turnier war jedoch kein Erfolg für ihn. In der Partie gegen Evgeny Najer übersah Nepomniachtchi ein brillantes Damenopfer und verpasste damit die mit einem Preisgeld dotierten Plätze.

GM Ian Nepo 2021 WCC
Nepomniachtchi, 2010. Foto: B. Marko, public domain.

2006 spielte der junge Spieler souverän in der Russischen Higher League und besiegte am Ende des Events die Großmeister Pavel Smirnov und Mikhail Kobalia und qualifizierte sich dadurch für die Russische Meisterschaft! Dort gewann er drei Partien und verlor vier und erwies sich als kreativer und kämpferischer Spieler. In der letzten Runde spielte er gegen Evgeny Alekseev, der später das Turnier gewinnen sollte, über 100 Züge. Nepomniachtchi versuchte, ein offensichtlich ungewinnbares bauernloses Endspiel mit Läufer und Springer gegen Springer zu gewinnen. Das sagt viel über seine Kraft und Entschlossenheit aus. Nepomniachtchi spielt mit jeder Farbe auf Gewinn und man findet nicht viele kurze langweilige Remis unter seinen Partien. 

In seiner Jugend war auch der Kapitän des Tomsk-400 Schachteams ein Schüler von Zilberstein und so wurde Nepomniachtchi eingeladen, hinter den Großmeistern Levon Aronian, Alexander Morozevich, Dmitry Jakovenko, Victor Bologan und Vladislav Tkachiev für die Mannschaft am Reservebrett zu spielen. Diese herausragende Mannschaft holte bei der russischen Mannschaftsmeisterschaft Bronze und beim European Club Cup Gold. Beim letzteren Turnier erzielte Nepomniachtchi 4 aus 4 – eine großartige Demonstration seiner Fähigkeit, für das Team zu gewinnen. Später spielte er für verschiedene Klubs aus Moskau, Saratow, Nowosibirsk, Tscheboksary und Jekaterinburg als Mannschaftsführer und bewies in entscheidenden Partien seine Nervenstärke.

2007 wurde Nepo beim Tata Steel Turnier, hinter dem erfahrenen Großmeister Michal Krasenkow, aber vor den Großmeistern Emanuel Berg, Parimarjan Negi, Hou Yifan und weiteren starken Spielern, Zweiter. In diesem Jahr wurde er auch selbst Großmeister und sogar ein 2600 Spieler. Gar nicht so schlecht, aber Carlsen spielte bereits in Elite-Turnieren.

Nepo qualifizierte sich durch seinen Sieg beim Aeroflot Open 2008 für sein erstes Elite-Turnier, denn der Sieger des Aeroflot Opens erhält jedes Jahr automatisch eine Einladung zum Dortmunder Sparkassen-Turnier.

Nepo startete in das Turnier mit 3 aus 3, besiegte dabei Aleksey Dreev und gewann das Turnier am Ende mit 7 von 9 möglichen Punkten. In der letzten und entscheidenden Runde besiegte er Le Quang Liem. Nepo war schon immer ein Genie am Schachbrett und ein Witzbold im Leben. Ich sah einmal mit eigenen Augen, wie er und Khairullin and Nepo in einer Hotellobby große Geldscheine in einen Automaten, an dem man Süßigkeiten, Getränke und vieles mehr kaufen konnte, steckten und als eine riesige Menge Wechselgeld herauskam lachten und laut "Jackpot! Jackpot!" riefen und sich über die verwunderten Blicke der umstehenden Hotelgäste glänzend amüsierten.

In Dortmund konnte sich Nepomniachtchi dann zum ersten Mal mit der weltweiten Schachelite messen: Kramnik, Shakhriyar Mamedyarov, Vassily Ivanchuk und Peter Leko! Ian verlor nicht eine einzige Partie, besiegte Loek van Wely und wurde am Ende geteilter Zweiter. 

Ablenkungen

Ihr werdet Euch jetzt sicher die naheliegende Frage stellen: Warum stand der talentierte russische GM trotz des großen Erfolgs einige Jahre nicht im Rampenlicht? Warum wurde er erst viel später als Carlsen, den er so oft bei Jugendturnieren besiegt hatte, ein Spitzenspieler? Ich denke, der Grund dafür war Ians Faszination für Computerspiele. Dieser digitale Angriff auf die Menschheit war damals nicht aufzuhalten.

Ich erinnere mich gut an die Russische Meisterschaft 2008, die von Maxim Ivakhin in Nowokusnezk organisiert wurde. Die Unterkunft und das Catering waren sehr gut, aber es gab kein WLAN auf den Zimmern. Die Spieler konnten allerdings einige Arbeitsplätze im Computerclub des Hotels kostenlos nutzen.

Nepomniachtchi war nicht nur ein häufiger Besucher dieses Clubs – er verbrachte praktisch jede Minute, in der er nicht am Schachbrett saß, dort und spielte Dota 2. Okay, wir waren in einer düsteren sibirischen Stadt und es gab kaum andere zivilisierte Unterhaltungsmöglichkeiten. Außerdem wusste ich nicht, dass Nepomniachtchi, a.k.a. FrostNova, zu den berühmtesten russischen Dota-Spielern gehörte und Mitglied des TR-Cybersport-Teams war, das bald darauf das prestigeträchtige ASUS-Cup-Winter-Event gewinnen würde.

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Nepomniachtchi kommentierte 2018 ein Dota 2 Match. Bild: Dota2RuHub.

Ian startete trotzdem mit 3,5 aus 4 in das Turnier und es sah so aus, als könnte er sich locker für das Superfinale qualifizieren. Am Ende des Turniers war er allerdings erschöpft und endete mit einer Punktzahl von 50%. Hat Dota seinem Schach geschadet? Das ist schwer zu beurteilen - aber es hat definitiv nicht geholfen.

Die Entwicklung geht weiter

Unzufrieden mit diesem Ergebnis reiste Ian nach Serpukhov, um im russischen Pokal zu spielen. Er überstand die drei ersten Runden, verlor aber im Viertelfinale gegen GM Nikita Vitiugov. Im Jahr darauf war Nepo erfolgreicher, verlor aber das Finale gegen Evgeny Bareev.

Es war sicher nicht die beste Phase in Ians Karriere, aber es war der Beginn seiner Arbeit mit dem starken GM, Europameister, gelehrten Theoretiker und einfühlsamen Freund Vladimir Potkin. Das Duo war schon bei den Aeroflot 2008 erfolgreich, aber 2010 erreichten ihre Leistungen das nächste Level, denn Nepomniachtchi wurde im kroatischen Rijeka Europameister. Er erzielte beeindruckende 9 aus 11 und gewann am Ende gegen Baadur Jobava und Vladimir Akopian

2010 reiste Nepomniachtchi als 2700+ Spieler nach Irkutsk, um an der Russischen Meisterschaft teilzunehmen und gewann das Tunier, bei dem ernsthafte Konkurrenz am Start war, überlegen. Bei der Schacholympiade in Chanty-Mansiysk gab er auf dem ersten Brett der zweiten Mannschaft sein Debüt für Russland. Bis dahin hatte er für Russland nur in den jährlich stattfindenden Freundschaftskämpfen gegen China und anderen Freundschaftsspielen gespielt. Er gewann die Bronzemedaille im Einzel auf dem ersten Brett, aber sein Team konnte keine Medaille gewinnen, da das entscheidende Spiel gegen Frankreich mit Sebastian Feller, der später wegen Betrug disqualifiziert wurde, verloren ging.

Neue Premieren

Im Herbst 2010 zog Nepomniachtchi nach Moskau und studierte an der Staatlichen Russischen Sozialuniversität (RSSU), die er später mit Auszeichnung abschloss. Am Ende des Jahres gewann er sein erstes Superfinale der russischen Meisterschaft, indem er Karjakin, einen anderen RSSU-Studenten, im Tiebreak besiegte.

Im Jahr 2011 konnte Nepomniachtchi ein beeindruckendes Elo-Rating von 2733 vorweisen. Er wurde zum Tata Steel-Turnier eingeladen, wo er sich mit den ehemaligen Weltmeister Anand und Kramnik, den Weltranglistenersten Carlsen, sowie Aronian, Vachier-Lagrave, Hikaru Nakamura, Anish Giri und weiteren Superstars messen konnte. Nepomniachtchi erzielte zwar "nur" 6 aus 13, konnte aber gegen Carlsen mit Schwarz gewinnen. In einem Interview für das führende russische Schachmagazin "64—Chess Review", schrieb er seinen Erfolg aber Potkin zu, der sich als Hellseher entpuppt und die Eröffnung bis ins Detail richtig vorhergesagt hatte. Im kritischen Moment war es aber Nepomniachtchi selbst, der den Sieg durch energisches Spiel unter Dach und Fach brachte.

Ungereimtheiten

Das war der Beginn seiner langen Reise in die obersten Ränge der weltweiten Schachelite. Die Fans schätzten Nepomniachtchi als Maximalist und Schachgladiator, der immer kämpfte, aber er kam fast genauso oft mit einem Lorbeerkranz wie ohne nach Hause. In guter Verfassung konnte er Rekorde brechen und die Topspieler auseinandernehmen, aber seine Wertung ging wie eine harmonische Welle auf und ab. Besonders frustrierend war aber, dass seine Abwärtssegmente oft mit den Qualifikationsturnieren zu einer WM zusammenfielen.

Mit der russischen Nationalmannschaft gewann Nepomniachtchi die Mannschafts-Europameisterschaft und die Mannschafts-Weltmeisterschaft sowie zwei olympische Bronzemedaillen (2016 und 2018). Manchmal wurde die Nationalmannschaft sogar für eine Taktik, für die die russische Presse den Ausdruck "Nepos Elfmeter" geschaffen hat, kritisiert: Die Spieler auf den anderen drei Brettern spielten auf Remis, während Nepomniachtchi versuchte, mit Weiß zu gewinnen. Normalerweise, und ganz besonders, wenn Nepo gut in Form war, ging diese Taktik aber auf.

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Nepomniachtchi bei der Schacholympiade 2018. Foto: Maria Emelianova/Chess.com.

Damals gab es eine „Null-Toleranz“-Regel, was bedeutete, dass ein Spieler seine Partie verliert, wenn er zu spät ans Brett kam. Selbst, wenn es sich nur um eine Sekunde handelte. Bei einer Mannschafts-Weltmeisterschaft hatte Nepomniachtchi seine Partie einmal fast verschlafen. Er zog sich im Fahrstuhl an, eilte in den Turniersaal und kam gerade noch rechtzeitig, nur wenige Sekunden vor Ablauf der Frist am Brett an, um einen Zug zu machen. Trotzdem fegte er seinen Gegner vom Brett.

2013 teilte sich Nepomniachtchi den ersten Platz bei der Europameisterschaft und der russischen Higher League, spielte gut bei der Schnellschach- und Blitzweltmeisterschaft und teilte sich beim Superfinale der russischen Meisterschaft den ersten Platz mit Peter Svidler. Allerdings verlor er dann im Playoff und Svidler wurde Russischer Meister.

Der Weltcup

Das wichtigste Turnier des Jahres endete allerdings mit einer wahren Katastrophe. Beim Weltcup 2014 verlor Nepomniachtchi bereits gegen Wei Yi, der zu dieser Zeit ein relativ unbekannter chinesischer Youngster mit nur 2551 Elo war. Andreikin, Ians Rivale in zahlreichen Jugendmeisterschaften, erreichte das Finale gegen Kramnik und qualifizierte sich für das Kandidatenturnier. Und Carlsen, dieser Norweger, der in seiner Kindheit so oft von Ian geschlagen wurde, gewann gegen Anand die Weltmeisterschaft.

2014 wurde Nepomniachtchi bei der Blitzweltmeisterschaft Vizeweltmeister. 2015 gewann er die Aeroflot Open und hatte einen relativ guten Start in den Weltcup. Er erreichte die dritte Runde und konnte dort Nakamura bis zum Armageddon zwingen. Die ganze Welt sah zu, wie Nakamura rochierte und dabei seinen Turm vor seinem König zog und später die Partie gewann. Nepomniachtchi reichte eine Beschwerde ein, aber das Berufungskomitee unter dem Vorsitz des Chefs der Europäischen Schachunion, Zurab Azmaiparashvili, wies den Protest ab. Der Russe sah aus wie Sisyphos, der gezwungen war, einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen. Dieser Weltcup in Baku wurde schließlich von Karjakin gewonnen, der sich später für die Weltmeisterschaft gegen Carlsen qualifizieren sollte.

2016 war ein gutes Jahr für Nepomniachtchi. Er konnte das Hainan Danzhou Turnier und das Tal Memorial in Moskau gewinnen. 2017 unternahm Nepomniachtchi dann einen neuen Versuch, um sich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren und nahm dafür sowohl am Weltcup als auch an der FIDE Grand Prix Serie teil.

Beim Grand Prix spielte er in Sharjah und Genf gut, aber eine schwache Leistung in Moskau warf ihn in der Endwertung auf den neunten Platz zurück. Und beim Weltcup in Tiflis war erneut die dritte Runde Endstation. Er stellte gegen Jobava im Playoff einen Turm ein und gab sofort danach auf. Solche Missgeschicke könnten das Selbstvertrauen und die Motivation eines jeden Athleten zerstören. Nicht aber von Nepomniachtchi. 

Währenddessen blieb Nepomniachtchi die Nemesis des Weltmeisters. 2017 erzielte er bei London Chess Classic seinen vierten Sieg gegen Carlsen. Diesmal war der Norweger aber sehr kooperativ. In ausgeglichener Stellung opferte er einen Bauern für die Initiative und stellte später eine Figur ein. Erst bei der Grand Chess Tour 2019 in Kroatien konnte Carlsen endlich seine erste (und bislang auch einzige) klassische Partie gegen Nepomniachtchi gewinnen.

Bevor er im Sommer 2018 eine neue Kampange zur Teilnahme an einer Weltmeisterschaft startete, gewann Nepomniachtchi das Gideon Japhet Memorial in Jerusalem und das Dortmund Sparkassen Turnier und lies dabei Kramnik, der das Turnier zuvor zehnmal gewinnen konnte, weit hinter sich. Dieses Turnier löste auch einen bemerkenswerten Generationenwechsel aus, denn kurz darauf beendete der 14. Weltmeister seine Profikarriere, wodurch Nepomniachtchi zur Nummer 1 Russlands wurde.

Der Weltcup 2019 bestätigte, dass ihm KO-Formate einfach nicht liegen. Er reiste mit einer Elo von 2776 zu dem Turnier, hatte eine passable Auslosung, gewann drei Runden ohne große Probleme und schied im Achtelfinale gegen Yu Yangyi aus.

Der zweite Versuch, sich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren verlief für Ian erfolgreicher, auch wenn es wieder ein KO war. Nepomniachtchi gewann die beiden FIDE Grand Prix Etappen in Moskau und Jerusalem und war damit für das Kandidatenturnier 2020 qualifiziert. Dass dieses Turnier als eines der ungewöhnlichsten Schachturniere aller Zeiten noch Geschichte schreiben würde, wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich noch niemand.

Kandidat und Herausforderer

Das Kandidatenturnier begann im März 2020 in Jekaterinburg. Die zweite Turnierhälfte wurde jedoch aufgrund der COVID-19-Pandemie verschoben. Nach der ersten Hälfte lag Nepomniachtchi mit 4.5 aus 7, gemeinsam mit Vachier-Lagrave, der den Russen in der siebten Runde besiegt hatte, in Führung.

Die Unterbrechung dauerte mehr als ein Jahr und während die Welt nach einem Heilmittel oder zumindest nach einem Impfstoff gegen das Virus suchte, versuchten die Kandidaten ihre Form zu erhalten. Wang Hao war dieser Aufgabe nicht gewachsen, verlor viele Partien in der zweiten Hälfte und erklärte seine Schachkarriere für beendet! Aber auch brillante Spieler wie Vachier-Lagrave, Caruana und Ding spielten nicht ihr bestes Schach. Aber jetzt sind wir der Geschichte ein wenig vorausgeeilt.

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Nepomniachtchi während der ersten Hälfte des Kandidatenturniers 2020-2021. Foto: Maria Emelianova/FIDE.

Während des Lockdowns nahm Nepomniachtchi an vielen Online-Turnieren teil und gewann zusammen mit der russischen Mannschaft die erste FIDE Online Schacholympiade, die auf Chess.com ausgetragen wurde. Bei der Champions Chess Tour gewann er erneut einige Partie gegen den Weltmeister, obwohl die Gesamtbilanz zugunsten von Carlsen sprach. In einem Interview sagte Nepomniachtchi, dass er sich bei diesen Online-Turnieren eine besondere Aufgabe gestellt hat: Nicht zu ziehen, bevor man nachdenkt. Diese Angewohnheit hatte er in der Vergangenheit oft sehr teuer bezahlt.

Nepomniachtchi entwickelte auch eine Leidenschaft für die beliebte russische Quizshow "Was? Wo? Wann?" und trat dort vor kurzem sogar auf und zeigte zusammen mit Aleksandra Kosteniuk und Evgeny Tomashevsky auf dem russischsprachigen YouTube Kanal von Chess.com eine Reihe interessanter Schachpartien.

Ende 2020 gewann Nepomniachtchi zum zweiten Mal in seiner Karriere die Russische Meisterschaft, was auch sein einziges "echtes" Schachturnier während der einjährigen Pause des Kandidatenturniers war.

Nepomniachtchi gibt bei der russischen Meisterschaft ein Interview. Foto: Maria Emelianova/Chess.com

Die WM

Im April 2021 konnte das Kandidatenturnier dann endlich fortgesetzt werden. Nepomniachtchi gewann das Turnier eine Runde vor Schluss und verdiente sich das Recht, Carlsen im November 2021 um die Weltmeisterschaft herauszufordern.

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Nepomniachtchi zeigt die Goldmedaille, die er beim Kandidatenturnier 2020-2021 gewonnen hat. Foto: Lennart Ootes/FIDE.

Ist es das erste Mal in der Schachgeschichte, dass ein Spieler, der als der vielleicht gefährlichste Rivale des Weltmeisters galt, ihn schließlich herausfordern konnte, nachdem er zuvor so viele Chancen verpasst hatte? Da gibt es gleich zwei Beispiele: Boris Spassky, das vielleicht größte russische Wunderkind aller Zeiten, konnte erst nach mehreren vergeblichen Versuchen gegen Tigran Petrosian antreten - und im zweiten Anlauf gewinnen. Und Kramnik, der sein Match gegen Kasparov nur der Schachgöttin Caissa zu verdanken hat und erst um die Weltmeisterschaft spielen konnte, nachdem die anderen Superstars dieser Generation ihr Schießpulver bereits verschossen hatten. Kramnik war an der Qualifikation mehrmals gescheitert, aber als es dann so weit war, konnte er Kasparov besiegen.

Jetzt haben wir es der Glücksgöttin Fortuna zu verdanken, dass wir eine  Weltmeisterschaft zwischen Carlsen und Nepomniachtchi zu sehen bekommen und jetzt geht sie auch endlich los!